Maxeiner & Miersch: Ist die Linke noch links? (Essay)

Hummer
Reichtum für alle! | Michael Franke / pixelio.de

Bei der Lektüre »Träum weiter, Deutschland! Politisch korrekt gegen die Wand.«, von Günter Ederer (Hartcover, Eichborn-Verlag, 2011) stieß ich auf einen Hinweis bezüglich eines Essays von Maxeiner & Miersch. Das Autorenduo kenne ich bereits durch das Autorenblog »Achse des Guten«. Das Essay stammt aus dem Jahre 2005 und trägt den Titel: Ist die Linke noch links?

Zwar datumsmäßig nicht mehr ganz aktuell, aber der Tatsache Rechnung tragend, dass sich die Thesen eher manifestiert haben, ist dieses Essay aktueller denn je, sodass ich es hier veröffentlichen möchte. Erstaunlich, wie die beiden Autoren es verstehen, an Hand weniger Beispiele die Situation zu schildern und nicht weniger erstaunlich, in welchem Jahr das passiert ist; zu einer Zeit, in der ich selbst noch an den tiefgrünroten Frühling glaubte.

Das Essay beleuchtet bereits erwähnte Frage an Hand folgender Kapitel: Bleibende Werte, Abschied von der Freiheit, Abschied von der Gleichheit, Abschied von der Brüderlichkeit, Abschied vom Internationalismus, Abschied vom Antifaschismus, Abschied von der Aufklärung, Abschied vom Fortschritt.

Das Essay wurde publiziert von der Friedrich-Nauman-Stiftung und kann als PDF herunter geladen werden, oder man kann gleich hier weiter lesen:

IST DIE LINKE NOCH LINKS?

Ein Abschied von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Autoren: Dirk Maxeiner und Michael Miersch (© 2005)

Bleibende Werte

Die Linke hat gewonnen. Zwar sind ihre ökonomischen und politischen Konzepte überall gescheitert, wo der Versuch unternommen wurde, sie zu realisieren. Aber sie hat die Köpfe erobert. Wertvorstellungen, die einst als dezidiert links* galten, sind heute ideelles Allgemeingut. Sie werden von Menschen in aller Welt geteilt, auch wenn diese sich selbst nicht als links betrachten.

* Der Begriff „links“ wird von uns in diesem Aufsatz bewusst undifferenziert gebraucht. Wir sind uns natürlich im Klaren darüber, dass es zwischen der SPD und Attac, zwischen IG-Metall und Dritte-Welt-Initiative alle möglichen Unterschiede gibt. „Links“ wird hier im Sinne eines wenn auch unscharfen Wertekanons und dem Zugehörigkeitsgefühl zu einer historischen Strömung benutzt.

Für Demokratie und Freiheit. Für Fortschritt, Aufklärung und Wissenschaft. Für gleiche Rechte, egal ob Frau oder Mann, schwarz oder weiß. Gegen Armut, Unterdrückung, wirtschaftliche Ausbeutung und religiösen Obskurantismus. Solche Selbstverständlichkeiten, die heute jeder an der Haustür unterschreiben würde, wären vor 100 Jahren (in manchen Ländern auch noch vor ein paar Jahrzehnten) ausgesprochen links gewesen. Ein Gutsbesitzer im Jahre 1900 hätte es vehement bestritten, dass seiner Dienerschaft gleiche Rechte gebühren, und betrachtete es als gottgewolltes Schicksal, dass seine Landarbeiter in bitterer Armut lebten. Die heutigen moralischen Standards wurden von der Linken gesetzt.

Ob man allerdings mit den Lösungsvorschlägen, die heutige Linke anbieten, diesen allgemeingültig gewordenen Wertvorstellungen näher kommt, ist zweifelhaft. Wer wünscht sich nicht eine Welt ohne Armut, ohne Unterdrückung, ohne Privilegien für wenige und mit gleichen Chancen für alle? Fragliche ist allerdings, ob diese Ziele durch staatliche Lenkung, bürokratische Regulierung und das Verteilen von Steuergeld erreicht werden können. Auch Menschen mit linken Wertvorstellungen werden immer skeptischer gegenüber etatistischen Patentrezepten.

Der Beweis, dass Planwirtschaft und Herrschaft von kommunistischen Parteien zu Armut, brutaler Unterdrückung und immer wieder zu Massenmorden führte, wurde im 20. Jahrhundert zur Genüge erbracht. Zu Anfang des 21. Jahrhunderts mehren sich auch die Zweifel an der konkreten Utopie der demokratischen Linken, dem Wohlfahrtsstaat. In der alljährlichen weltweiten Untersuchung „Economic Freedom of the World“ schneiden sozialstaatliche Regulierungsmodelle regelmäßig schlecht ab. Der Abstand zwischen arm und reich ist dort am geringsten, wo freie Marktwirtschaft herrscht und die Regierung lediglich den ordnungspolitischen Rahmen vorgibt. Auch bei anderen wichtigen Indikatoren, die linken Wertvorstellungen entsprechen, schneiden die Länder mit wenig regulierter Ökonomie besser ab: Höherer Lebensstandard des ärmsten Viertels der Bevölkerung, höheres allgemeines Bildungsniveau, bessere Gesundheitsversorgung.

In den reichen Industrieländern des Westens ist die Linke strukturkonservativ geworden. Früher kämpften ihre Anhänger für radikale Veränderungen. Heute warnen sie mit sorgenvollem Stirnrunzeln vor allzu viel Veränderung und weisen auf die Risiken hin. Technischer Fortschritt? Nein, danke! Offen Grenzen für Waren aus der Dritten Welt? Vorsicht! Mehr Freiheit für den Einzelnen? Lieber nicht. Kampf gegen Diktaturen? Ohne uns.

Seit die Vereinigten Staaten und Großbritannien entschlossen sind, einen demokratischen Aufbruch in den Despotien des Nahen Ostens herbeizuführen, stemmt sich ausgerechnet die Linke dagegen. Aber war nicht der Kampf gegen Unterdrücker und Menschenschinder traditionell Sache der Linken? Hieß links sein nicht fortschrittsoptimistisch sein, Lust auf Veränderung haben und an ein besseres Morgen glauben? Was hat sich da im Weltbild und im Selbstverständnis verschoben? Ist die Linke überhaupt noch links?

Ein untrügliches Kennzeichen der geistigen Erstarrung ist das Festhalten an Methoden an Stelle von Zielen. Als die Telekommunikation in Europa liberalisiert wurde, warnten sozialistische Politiker: Rentner und Arbeitslose werden sich das Telefonieren nicht mehr leisten können, und die kapitalistische Rationalisierung werde zu einem drastischen Verlust an Arbeitsplätzen führen. Das Gegenteil trat ein: Die Tarife wurden immer billiger und viele neue Jobs entstanden in der Telekommunikation. Ergebnisse im Sinne linker Werte geschaffen durch liberale Methoden. Staatliche Regulierungen, Verbote und Subventionen dagegen führen oftmals nicht zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Es ist das Gegenteil von sozial, wenn von den Steuern der Verkäuferin das Eigenheim ihres Chefs gefördert wird. Es ist das Gegenteil von sozial, wenn der Fabrikarbeiter das Gratis-Studium des Managersohns mitfinanziert. Die Fixierung auf bestimmte Methoden und Instrumente führt zu absurden Ergebnissen. Es wird Zeit zu fragen, ob die Politikmodelle noch zweckmäßig sind, um den Zielen und Wertvorstellungen näher zu kommen. Vielleicht ist die Zeit für eine neue Linke gekommen. „Würde uns nachgewiesen,“ schrieb der deutsche Sozialist Karl Kautsky, „dass etwa die Befreiung des Proletariats und der Menschheit überhaupt auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln allein oder am zweckmäßigsten zu erreichen sei …, dann müssten wir den Sozialismus über Bord werfen, ohne unser Endziel im Geringsten aufzugeben, ja wir müssten das tun, gerade im Interesse dieses Endzieles.“ Anhand von sieben Leitgedanken möchten wir kurz darstellen, warum etliche Auffassungen, die heute als links gelten, von dem was Kautsky „Befreiung der Menschheit“ nannte, meilenweit entfernt sind.

Abschied von der Freiheit

Die Linke gibt Diktatoren moralische Rückendeckung.

Einerseits ist es eine Binsenweisheit und allgemein bekannt, dass Linke immer wieder verbrecherische Regimes unterstützten. Andererseits entwickelte diese Unterstützung seit dem Ende des kalten Krieges eine ungeahnte Dimension. Denn heute verteidigen viele Linke nicht nur linke Diktaturen sondern alle Diktaturen das ist neu.

Doch zunächst ein kurzer Blick zurück. Die blutigsten Despoten des 20. Jahrhunderts erhielten Zuspruch und Applaus von Künstlern und Intellektuellen aus dem Westen. Brecht und Neruda, Picasso und Chaplin, Harry Belafonte und Jean-Paul Sartre, und, und, und …: Hunderte Prominente, und Hunderttausende Nicht-Prominente imaginierten hinter dem eisernen Vorhang das Land der Verheißung. Noch in den siebziger Jahren bewunderten deutsche Radikale, die später Spitzenpositionen bei den Grünen und in Bundesministerien innehatten Mao Tse-tung und Pol Pot.

Doch es gab immer auch die anderen. Das große Schisma zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten machte deutlich, dass die Mehrheitsströmung der Linken im Westen fest auf dem Boden der Demokratie stand. Sozialisten verteidigten die Freiheit in historischen Situationen, in denen Konservative und Liberale kein gutes Bild abgaben, unter anderem in Deutschland 1933. Auch gegenüber dem Stalinismus standen sie an vorderster Front: Ohne den Mut und die Entschlossenheit von Männern wie Ernst Reuter, Kurt Schumacher und Willy Brandt wäre Westberlin womöglich dem sowjetischen Machtbereich einverleibt worden.

Doch seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts schwächelt der antitotalitäre Geist der Sozialdemokratie. Im Zuge der Bewegung gegen die Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen, die wie man heute weiß von Ostberlin gesteuert wurde, knüpfte die damalige Juso-Generation immer engere Kontakte zu SED-Funktionären. Bald gab es hochrangige Dialoge und Gesprächskreise zwischen Vertretern der SPD und des DDR-Regimes. Führende Sozialdemokraten distanzierten sich vom Arbeiteraufstand in Polen und als sich die Bevölkerung der DDR erhob, blieben sie bis zuletzt vom Bestand der Diktatur überzeugt und warnten ständig davor, sich „Illusionen“ zu machen. Obwohl die Geschichte sie gründlich widerlegte, blieben viele der Achtziger-Jahre-Jusos weiterhin bei dem, was sie für „Realpolitik“ und „Entspannungspolitik“ hielten. Kanzler Gerhard Schröders Außenpolitik zeichnete sich durch eine enge Freundschaft zu Russlands halbdemokratischen Präsidenten Putin aus, sowie durch ein erstaunliches Vertrauen zur Chinas Gewaltherrschern.

Sozialdemokratische Anbiederung und kommunistische Solidarität galten im 20. Jahrhundert fast immer nur Diktaturen mit rotem Anstrich. Als Antifaschist war man stolz darauf, rechte Unterdrückerregimes zu verachten und zu bekämpfen.

Eines der wichtigsten und erfolgreichsten moralischen Argumente, die die Linke während des kalten Krieges gegen Amerika vorbrachte, war dessen schändliche Unterstützung von rechten Diktaturen. Nach der Devise „er ist ein Schweinehund, aber er ist unser Schweinehund“ hatten die Regierungen in Washington finstere Gestalten protegiert: Mobutu im Kongo, Pinochet in Chile, Marcos auf den Philippinen und Dutzende andere. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches nahm die Hilfe für pro-amerikanische Diktaturen rapide ab. Einige wurden von ihren Untertanen zum Teufel geschickt. Die Unterstützung der USA galt dabei immer häufiger der demokratischen Opposition. Nach dem 11. September 2001 wurde diese Tendenz von Condoleezza Rice zu einer klaren politischen Agenda entwickelt. Amerikas Außenpolitik bekennt sich seither zur aktiven Ausbreitung von Demokratie und liberalen Freiheiten. Die Terror-Regimes in Kabul und Bagdad wurden abgesetzt. Pro-Amerikanische doch undemokratischen Regimes kriegen von Washington immer häufiger die kalte Schulter gezeigt. Selbst peinliche Ausnahmen von dieser Regel wie Saudi Arabien und Ägypten müssen regelmäßig Kritik und Mahnungen über sich ergehen lassen.

Seit die US-Regierung ihr Wohlwollen für rechte Diktaturen aufkündigte, drehte sich die Linke in die andere Richtung. Plötzlich erscheinen im linken Weltbild Faschisten, Theokraten und korrupte Militärherrscher in immer milderem Licht, Hauptsache sie widersetzen sich der amerikanischen Politik. Rief man früher nach internationaler Solidarität, so pocht man heute auf die Unantastbarkeit nationaler Souveränität um jeden Preis, selbst wenn es um Machthaber geht, die bereits mehrere Genozide auf dem Kerbholz haben. „Die gute alte Linke war einmal universalistisch,“ schreibt der amerikanische Linksliberale Paul Berman, „sie dachte, dass jedermann, überall auf der Welt, den Wunsch verspürt, den selben fundamentalen Werten gemäß zu leben, und dass man ihm helfen sollte, dieses Ziel zu erreichen. Diese Linke dachte, dass dies besonders für Menschen in Gesellschaften gilt, die man mit Gründen als modern bezeichnen kann: solche mit Universitäten, Industrie und bürokratischer Infrastruktur Gesellschaften wie die irakische. Aber heute nicht mehr! Heute wird im Geiste egalitärer Toleranz gesagt: Sozialdemokratie für die Schweden! Tyrannei für die Araber! Bitte, das soll eine linke Haltung sein? Nebenbei, man hört von der Linken wenig über die nicht-arabischen Minderheiten in Ländern wie dem Irak. Die Linke, die wirkliche Linke, war einmal die Anwältin der Minderheiten wie etwa der Kurden. Heute nicht mehr! Die Linke hat die Werte der Linken über Bord geworfen.“

In seinem Buch „Terror und Liberalismus“ zieht Berman eine luzide Parallele zwischen der heutigen Situation und den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Damals gab es Frankreich eine große streng pazifistische Minderheit innerhalb der Sozialistischen Partei. Diese friedlichen Sozialisten sahen eine Bedrohung des Frieden darin, dass Frankreich zum Schutz gegen Deutschland aufrüstete und sich bereit machte, einem eventuellen Angriff zu widerstehen. Sie kämpften wacker gegen anti-deutsche Ressentiments und warben um Verständnis für deutsche Positionen. Sie versuchten, die französische Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Nazis gar nicht so schlimm waren und in manchem sogar Recht hatten. Es stimmte doch, dass der Versailler Vertrag unfair war. War es nicht eine gute Tat, dass Hitler die Arbeitslosen von der Straße holte? Hatten die Juden nicht tatsächlich zuviel Einfluss in Deutschland? Doch ihr Verständnis und ihre Friedensliebe machten die Pazifisten blind gegenüber den Staatsterror des Nazi-Regimes und seinen Kriegsvorbereitungen sie kritisierten lieber die eigene Regierung. Als die Wehrmacht später Frankreich besetzte, wurden viele von ihnen zu Kollaborateuren, die die NS-Verwaltung aktiv unterstützten in bester Absicht versteht sich.

Die Demokratien der Welt waren noch nie so stark wie heute. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte die überwältigende Mehrheit der Menschen noch unter der Herrschaft von Diktatoren, Monarchen oder kolonialen Gouverneuren. Heute gibt es in nahezu zwei Dritteln aller Staaten gewählte Regierungen, dort lebt die Mehrheit der Weltbevölkerung. In 85 Ländern existieren sogar vollwertige liberale Demokratien mit allen Grundfreiheiten, die dazu gehören. Es gibt also immer weniger Gründe, sich von Dinosauriern der Geschichte die Geschäftsordnung diktieren zu lassen. Im Jahr 2000 wurde in Warschau die „Community of Democracies“ gegründet, eine globale Initiative demokratischer Regierungen, die innerhalb und außerhalb der UN die Ausbreitung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten unterstützen wollen. Dies klingt nach einem genuin linken Projekt in bester Tradition: internationalistisch, demokratisch, und der Zukunft zugewandt. Doch leider interessiert sich die Linke kaum dafür.

Abschied von der Gleichheit

Die Linke verfestigt die kulturelle Abschottung der Bessergestellten.

Die Erfolge sozialdemokratischer Politik in den sechziger und frühen siebziger Jahren brachte eine große Zahl gut bezahlter Stellen hauptsächlich im öffentlichen Dienst hervor. Gleichzeitig ließ die technische Entwicklung die Zahl der klassischen Industriearbeiter rapide schrumpfen. Als Folge dieser sozialen Umwälzung änderten sich Denkart und Habitus der Linken grundlegend. Aufsteiger, die es geschafft haben, neigen zu konservativem Denken. Das Entstehen der neuen sozialen Bewegungen und später der grünen Partei wirkte dabei als Katalysator, der nach kurzem Aufbäumen unter Helmut Schmidt den Wandel des sozialdemokratischen Hauptstroms beschleunigte.

Der Klassenkampf war so gut wie gewonnen, die Arbeiter hatten ihre Häuschen, ihre Autos, ihre Urlaubsreisen, die Gewerkschaften ihr Tarifkartell und ihre Mitbestimmung. Die stetig wachsende akademische Linke musste sich auf die Suche nach neuer Klientel begeben, die es zu vertreten galt. Die Zielobjekte sollten möglichst schwach und unmündig sein und am besten anders als die alte Arbeiterklasse ihrer Avantgarde nicht reinreden. So gerieten benachteiligte Minderheiten, ferne Völker, Tiere und Bäume in den Fokus linker Politik. Oftmals kam dabei nicht mehr als ein einfältiger Sentimentalismus nach den Mustern der alten Lebensreformbewegung heraus.

Triebfeder dieses Gesinnungswandels ist das starke Bedürfnis nach moralischer Distinktion, die zu einem wichtigen sozialen Accessoire geworden ist. Ein Ausweis der Dazugehörigkeit, wie die Kennerschaft in Sachen Wein, Oper oder Designermöbel, die heute ebenso zum linken Lebensstil gehört. Eine in besseren Kreisen erfolgreiche Catering-Firma heißt „Rote Gourmet Fraktion“. Wie alle jungen Eliten möchten sich auch die Gewinner der ökosozialen Bildungs-, Kultur-, Gleichstellungsund Umweltoffensiven von der Masse absetzen. Sie müssen sich selbst immer wieder aufs Neue beweisen, dass sie edlere Gefühle haben als das gemeine Volk. Dessen soziale Wirklichkeit wird bestenfalls noch durch Gespräche mit Taxifahrern wahrgenommen.

Das seltsame Phänomen des „antibürgerlichen Bürgertums“ erklärt die Tabus von gestern zum guten Ton von heute. Doch die neue geistige Landschaft ist ebenso von Tabuzonen durchzogen, wie die Spießeridylle der Adenauerzeit. Im Kulturbetrieb reüssiert nur, wer von den Kontrollinstanzen der herrschenden Normen durchgelassen wird. Die Kontrolleure besiedeln nahezu den gesamten Mittelbau und auch viele Chefetagen in Kirchen, Schulen, Verlagen, Rundfunkanstalten, Theatern, Musikindustrie und Filmbranche. Der Soziologe Gerhard Schulze nennt sie die „Priesterkaste hauptberuflicher Einschätzer.“

Viele Vertreter dieses neuen Establishments halten sich nach wie vor für Rebellen. Die Welt ist schlecht, lautet ihr Credo, und der Kapitalismus ist schuld daran. Diesen Glauben lassen sie sich von niemandem nehmen. „Alles“, so kennzeichnet Gerhard Schulze diese Haltung, „ist problematisch, fragwürdig, relativ, kaputt und so weiter.“ Kritik an ihrer Haltung können sie nur als affirmative Kritiklosigkeit empfinden, weil sie das kritische Bewusstsein für alle Zeiten gepachtet haben.

Die Intellektuellen des 20. Jahrhunderts idealisierten den „Proletarier“ als Edelmenschen und Bannerträger der Revolution. Heute bestaunen sie die „Prolls“ angewidert in den Freakshows der Privatsender und sorgen dafür, dass ihr Nachwuchs nicht mit Unterschichtkindern in Berührung kommt. Sie haben die Tür zur Bildung hinter sich zusperrt. Und sie setzen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ein, damit dies so bleibt. Eines der wirkungsvollsten ist ihr geistiger Dresscode. Wer zur akademischen Mittelschicht gehören will, hat irgendwie „links“ zu sein. So bleibt man unter sich.

Dünkel ist wieder erlaubt. Man strebt nach Höherem und verachtet die schnöden materiellen Wünsche der Unterschicht. Die Toskana-Linken haben vergessen, dass ihr postmaterielles Universum über einem materiellen schwebt, in der sich nach wie vor die Wirklichkeit großer Teile der Bevölkerung abspielt. Sie haben die emotionale Erdung verloren, die große Sozialdemokraten und Gewerkschafter der Vergangenheit auszeichnete. Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, aber auch den produktiven Sektor (der die Umverteilungsmaschine füttern muss) trifft man nicht auf Vernissagen und Premieren. Sie haben andere Sorgen. Oder keine Zeit.

Die linke Bildungselite redet über die Unterschicht genauso herablassend, wie einst der Gutsherr übers Gesinde. Beim einträchtigen Lamento über die Unkultur des „Prolls“ feiert man die eigene geistig-moralischer Überlegenheit und zeigt mit ausgestrecktem Finger auf die da unten. Dabei sind es gerade die akademisch kultivierten Kreise, die regelmäßig den größten Unsinn nachbeten und sich von jeder medialen Hysterie ins Bockshorn jagen lassen. Das Waldsterben wütete in Redaktionsbüros. Waldarbeiter fassten sich nur an den Kopf. Auch um einen strengen Winter als Zeichen globaler Erwärmung zu deuten, muss man dialektisch geschult sein. Erst dann leuchtet einem auch ein, warum hohe Benzinpreise gut und billige Lebensmittel schlecht sind. Nach dem 11. September 2001 dauerte es nicht lange, bis Angehörige der talkenden Klasse das Geschehen zur irgendwie gerechten Rache erklärte oder die phallische Dimension der Doppeltürme hervorhoben. Weniger Hochgebildeten taten einfach nur die Menschen leid, die aus Hochhausfenstern stürzten. Auch dass Europa ein Problem mit islamischen Zuwanderern kriegen könnte, galt in den neunziger Jahren unter Café-Latte-Trinkern in den Uni-Vierteln noch als quasi-faschistisches Ressentiment. Diejenigen, die mit Einwanderern das Wohnquartier teilten, sahen das viel früher viel klarer.

Was einst als „kritisches Bewusstsein“ antrat ist zum gutbürgerlichen Ideal geworden. Jeder, der es zu was gebracht hat, und als kulturell auf der Höhe gelten möchte, ist gegen Neoliberalismus, gegen Amerika und gegen Getränkedosen. Unter den BAT-Intellektuellen besteht Konsens, dass sich in der westlichen Konsumgesellschaft alles radikal ändern muss außer die eignen Privilegien.

Abschied von der Brüderlichkeit

Die Linke verteidigt die Privilegien und Sonderrechte.

Einer der klassischen Kritiken der Linken an der bürgerlichen Gesellschaft lautet: Die Gleichheit vor dem Gesetz sei rein formell. Faktisch ist der Ärmere immer schlechter dran als der Reiche. Deshalb müssen durch brüderliches Teilen des Sozialprodukts die Armen reicher und die Reichen ärmer gemacht werden. Erst wenn alle einen ähnlich Lebensstandard genießen, herrscht soziale Gerechtigkeit. Alle Menschen werden Brüder. Die Methoden, um dieses Ziel durchzusetzen, reichten von der Verstaatlichung der Produktionsmittel (die Hardcore-Variante) bis zu progressiven Steuern zur Umverteilung des erwirtschafteten Wohlstands (Fiskalsozialismus). Links sein, dass hieß für die Armen und Schwachen eintreten, gegen die Bevorzugung und Besserstellung privilegierter Schichten zu kämpfen. Für die Schwachen, gegen die Starken, für die Kleinen gegen die Großen, für David gegen Goliath. Doch die Linke von heute verteidigt immer häufiger die Bessergestellten gegen arme Schlucker, die Besitzenden gegen die Habenichtse und zwar materiell wie auch kulturell.

Jede Lockerung des Kündigungsschutzes wird von aufrechten Gewerkschaftern als sozialer Kahlschlag und Zerstörung von Arbeitnehmerrechten angeprangert. In Ländern ohne oder mit geringem Kündigungsschutz, wie den USA oder der Schweiz, finden Menschen jedoch viel schneller Arbeit als in Deutschland. Auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist dort weitaus geringer. In Amerika ist es kein Makel den Job zu verlieren, und wesentlich leichter einen neuen zu finden. In der Theorie soll starrer Kündigungsschutz wehrlose Arbeitnehmer vor der Willkür brutaler Bosse schützen. In der Realität schützt er lethargische Arbeitsplatzbesitzer vor tüchtigen Arbeitsuchenden. Wer ist in diesem Gefüge der Schwache, wer der Starke?

Ein lehrreiches Studienobjekt für die unsozialen Nebeneffekte übertriebener Absicherung sind die öffentlich rechtlichen Rundfunkanstalten. Wer von den Gebühren der Fernsehzuschauer profitiert, kann man schon bei einem Blick auf die Architektur erkennen: Bei etlichen Sendern sind die Verwaltungstrakte größer und prächtiger als die Studios. Wer einen Job bei Radio oder Fernsehen ergattert hat, ist nahezu beamtenhaft abgesichert und nur noch schwer kündbar. Da es jedoch unbezahlbar wäre, diesen Status allen anzubieten, darf nur ein kleiner Teil des Personals in den Genuss solcher Privilegien kommen. Die weitaus größte Zahl verdingt sich als freie Mitarbeiter ohne irgendwelche gesicherten Ansprüche. Die Gewerkschaften kämpfen wacker für den Erhalt und den Ausbau der Rechte der Festangestellten. So entstanden im Laufe der Jahre zwei Klassen: Quasi-Beamte und Tagelöhner. Knallharte soziale Diskriminierung, erschaffen im Namen der Arbeitnehmerrechte.

Die Linke der achtziger Jahre sprach gern vom kommenden postmateriellen Zeitalter. Der Wohlfahrtsstaat, so die damals gängige These, habe die Armut im Inland nahezu beseitigt. Die großen Konflikte der Zukunft erwartete man auf so genannten weichen Politikfeldern wie Umweltschutz, Geschlechterbeziehungen oder Lebensstilfragen. Erich Fromms Bestseller „Haben oder Sein“ wurde von Sozialdemokraten wie Oskar Lafontaine (der damals als besonders modern galt!) zum philosophischen Wegweiser erklärt. Doch die vermeintlich postmaterielle Ära währte nur kurz. Nachdem der Fall der Mauer das soziale Elend des sowjetischen Sozialismus offenbart hatte, standen handfeste materielle Fragen wieder auf der Tagesordnung.

Heute geht es zwar noch nicht ums Brot, aber immerhin schon wieder um die Wurst. Wo materielle Kämpfe ausgefochten werden, kann man Fromm getrost beiseite legen. Es lohnt sich dagegen ein Blick zurück zu Marx. Der interpretierte die Geschichte als Abfolge von Klassenkämpfen. Die Klassenkampf-Theorie kann durchaus hilfreich sein, wenn um die ökonomischen Grundlagen eines Landes gestritten wird. Denn in Deutschland wird ein knallharter Klassenkampf ausgetragen. Jedoch nicht mehr zwischen Arbeitern und Kapitalisten, sondern zwischen zwei Lagern, deren ökonomischen Interessen mindestens ebenso antagonistisch gegeneinander stehen: Dem produktiven Sektor und dem öffentlichen Dienst. Zum produktiven Sektor zählen Arbeiter und Angestellte in der Privatwirtschaft, Unternehmer und Freiberufler. Der öffentliche Dienst umfasst alle, die bei Bund, Ländern und Kommunen angestellt sind, oder in staatsnahen Körperschaften nach öffentlich-rechtlichen Tarifen besoldet werden. Zwischen den beiden Antagonisten stehen die großen Kapitalgesellschaften und Finanzkonzerne, die aber durch vielfältige Verflechtungen und Abhängigkeiten mehr zur Seite des Staates neigen.

Die Linke wurzelt schon lange nicht mehr in der Arbeiterschaft, umso tiefer dafür im öffentlichen Dienst, dessen Interessen sie entschieden und kampferprobt vertritt. Es ist kein Zufall, dass gerade „Verdi“, die Interessenvertretung des öffentlichen Dienstes, als Speerspitze der ansonsten kümmernden Gewerkschaftsbewegung gilt. Etwa fünf Millionen Menschen arbeiten als Beamte oder Angestellte im öffentlichen Dienst. In den Parlamenten ist diese Bevölkerungsgruppe heftig überrepräsentiert. Der produktive Sektor dagegen ist dort kaum vertreten. Doch dieses Drittel der Gesellschaft kommt für alle und alles auf: Für die Renten, die Krankenkassen, die Bildung, für Arbeitslosengeld und Sozialhilfe und natürlich auch für die Besoldung des öffentlichen Dienstes. Den Kern des produktiven Sektors bilden die mittelständischen Betriebe. Sie zahlen die meisten Steuern, bieten die meisten Arbeitsplätze und Lehrstellen, bringen die meisten Erfindungen und Innovationen hervor. Dem öffentlichen Dienst ist die Situation des produktiven Sektors fremd und unverständlich. Wie eine herrschende Klasse im Marxschen Sinne versucht er mit Hilfe immer höherer Steuern, eines starren Kündigungsschutzes und hoher Staatsschulden seine Machtposition zu festigen und auszubauen. Die Linke führt den Klassenkampf von oben, und bedient sich dabei ironischerweise der Propagandaklischees des Marxismus. Mancher Appell von „Verdi“, in dem es um nichts weiter geht als die Privilegien unkündbarer Gutbetuchter, liest sich, als werde um die Hungerlöhne peruanischer Minenarbeiter gefochten.

Ein genialer Schachzug im Kassenkampf von oben war die Eroberung der geistigen Hegemonie durch die ökonomische Anbindung der kulturellen Eliten (hier lohnt es sich den Blick von Marx zu Gramsci schweifen zu lassen). Da nahezu der gesamte Kulturbetrieb von Staatsgeldern abhängig und an Staatsgelder gewöhnt ist, unterbleibt in diesem Bereich fast jegliche Kritik an den Herrschenden. Ökonomisch rundum versorgte Kulturmandarine inszenieren den Klassenkampf von gestern, weil sie den von heute nicht begreifen können und wollen. Auch hierfür liefert Marx eine schlüssige Erklärung: Das Sein macht das Bewusstsein. Stadttheater, Kunstakademien und populäre Fernsehkrimis simulieren kritisches Bewusstsein, indem sie unablässig die alten Klischees aufwärmen. Der öffentliche Dienst applaudiert, der produktive Sektor zahlt die Subventionen.

Abschied vom Internationalismus

Die Linke zementiert Grenzen, nationale Abschottung und die Probleme der Dritten Welt.

Bücher wie „Die Globalisierungsfalle“ (Martin und Schumann, Deutschland), „Der Terror der Ökonomie“ (Forrester, Frankreich) oder „Das Ende der Arbeit“ (Rifkin, USA) dürfen in keinem linken Bücherregal fehlen. Ein begeistertes Publikum erschaudert vor den Grausamkeiten der Weltwirtschaft: Bosse und Börsenspekulanten überziehen die Welt mit der Pest des Freihandels. Damit sie die Dritte Welt noch rücksichtloser ausbeuten können, nehmen sie den Arbeitern in den alten Industrieländern die Jobs weg. Dabei kommen soziale Standards, Umweltschutz, Kultur sowie alles Schöne, Gute und Edle unter die Räder. So weit die Theorie.

Doch wovor wollen die gläubigen Globalisierungsgegner in Gewerkschaften, Regierungen und Redaktionen die Menschheit eigentlich retten? Wie sieht der ökonomische Prozess aus, der Globalisierung genannt wird? Lassen wir zwei über linke Zweifel erhabene Experten zu Wort kommen. „Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden täglich vernichtet, sie werden verdrängt durch neue Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden.“ So heißt es im „Manifest“ von Marx und Engels. Zufrieden fügen die beiden an: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation.“ Die beiden Revolutionäre begrüßten diesen Prozess. Die aufstrebenden Ex-Kolonien zählt das kommunistische Manifest ebenso zu den erfolgreichen „Global Playern“, wie die modernen, innovativen Industrien.

Heute finden in den Ländern, die dank Kapitalismus und freiem Markt reich geworden sind, die Parolen von Attac reichlich Zulauf, während sich Revolutionäre neuen Typs in den Regionen der Armen sammeln. Wer wahre kapitalistische Überzeugungstäter finden will, wird in die Slums von Johannesburg, Lima oder Bombay Überraschungen erleben. Denn im Gegensatz zu ihren wohlmeinenden Führsprechern im Westen sind viele Dritte-Welt-Bewohner von Marktwirtschaft und Freihandel überzeugt. Kürzlich brachte eine Umfrage in 44 Ländern beispielsweise an den Tag, dass die absolute Mehrheit der Afrikaner dem freien globalen Handel positiv zugeneigt ist. Nur eine Minderheit der Europäer mochte sich dieser Ansicht anschließen.

In den „Pueblos jóvenes“ von Peru, den „Favelas“ in Brasilien, den „Ranchos“ in Venezuela, den „Barrios marginales“ in Mexiko, den „Bidonvilles“ in den ehemaligen französischen Kolonien und den „Shanty Towns“ in den britischen, ist eine kapitalistische Graswurzel-Revolution im Gange, die Beobachter ob ihrer Dynamik und Kreativität staunen lässt. Die Armen erweisen sich als „risk takers“ gegen die sich mancher arbeitslose Europäer wie ein hilfloses Kleinkind ausnimmt. Sie haben beschlossen die Umverteilung des Reichtums in die eigenen Hände zu nehmen und die Bastionen der Reichen als Kleinstunternehmer zu unterlaufen.

Straßenhändler, Kleinbauern und Arbeitsuchende spüren jeden Tag am eigenen Leibe, dass zumeist nicht raffgierige Unternehmer ihnen das Leben schwer machen, sondern kleptokratische Herrscher und ihre Bürokratien. Die neuen Revolutionäre beziehen ihre ökonomischen Rezepte nicht von Che Guevara und Mao Tse-tung. Statt dessen fordern sie mehr Markt, Chancen für alle und verbriefte Eigentumsrechte (die oftmals gerade den Ärmsten vorenthalten werden, beispielsweise für ihre selbst gezimmerte Hütte). Kaum jemand in Europa und Nordamerika kennt die neue Generation liberaler Intellektueller aus Afrika, Südamerika oder Asien. Stattdessen werden hierzulande altbackene Ideologinnen wie Arundhati Roy oder Vandana Shiva herumgereicht, die bei uns das soziale Gewissen geben, aber bei den Armen ihrer Heimat keinen Rückhalt haben.

Marktwirtschaft muss ganz unten anfangen, davon ist beispielsweise auch Südafrikas liberaler Vordenker Themba Sono überzeugt. Deshalb ist der frühere Anhänger marxistischen Ideengutes offensiv pro-kapitalistisch geworden. Er weigert sich den Menschen eine Gesellschaft zu versprechen, in der alle gleich seien, doch er fordert ein System, das niemanden daran hindert, seine Lage zu verbessern. „Leider fallen so viele Leute immer wieder auf die Versprechungen der Politiker rein,“ schimpft er. „Sie möchten an das Märchen vom guten Staat glauben, der für soziale Gerechtigkeit sorgt. Doch die Politiker helfen nur sich selbst. Sehen sie sich Simbabwe an. So endet populistische Illusionspolitik.“

„Was bedeutet Kapitalismus?,“ fragt er rhetorisch. „Es bedeutet, dass jeder das Recht hat zu investieren, in der Hoffnung, damit Gewinn zu erwirtschaften. Das Leben ist immer eine Form von Investment, egal was wir tun.“ Er will, dass auch die Armen Eintrittskarten ins kapitalistische System erhalten: Eigentumsrechte auf ihren geringen Besitz, das Recht private Initiativen zu gründen, wo der Staat versagt, dass Recht einen Job anzunehmen, auch wenn er nicht den Normen der Gewerkschaften entspricht. Wer diese Eintrittskarten nicht erhält, wird immer ganz unten bleiben.

Wie man in bester Absicht den Menschen Chancen verweigert, zeigt folgendes Beispiel: Um linken Aktivisten vorsorglich den Wind aus den Segeln zu nehmen, entzog der Sportartikelhersteller Reebok einem Zulieferer in Thailand sämtliche Aufträge. Begründung: Die Arbeitszeit lag bei über 72 Stunden in der Woche. Dabei war nicht von Belang, dass viele Arbeiter mehr und nicht weniger arbeiten wollten. Es spielte auch keine Rolle, dass die Bezahlung besser als der Mindestlohn war, dass Sicherheitsund Gesundheitsstandards über dem Niveau lagen, das die lokalen Arbeitgeber normalerweise offerieren. 400 Menschen verloren ihren Job. Echt fair. Überschrift des „Economist“ dazu: „Ethisch arbeitslos.“ Themba Sono wirft den Linken vor, dass sie von den wirklichen Sorgen der Armen keine Ahnung haben: „Die Celebreties der Globalisierungsgegner jetten zwischen den Hauptstädten Nordamerikas und Europas hin und her und verbringen ihr Leben in Konferenzräumen und in Fünf-Sterne-Hotels.“ Seine Botschaft an den „Njet Set“ lautet: „Lasst uns in Ruhe. Hört auf, eure verstaubten Ideologien zu exportieren.“

Julius Nyerere, der sein Land mit sozialistischen „Ujamaa-Dörfer“ nachhaltig ruinierte gilt in der Linken immer noch als Held und Che Guevara, der Kubas Wirtschaft zerstörte, erst recht. Nicht Taten zählen sondern Worte. Das seltsame beim Barmen um die Armen ist andererseits die merkwürdige Ausblendung von offensichtlichen Erfolgsgeschichten im Kampf gegen Armut und Hunger: In Südostasien ist seit mehr als zwei Jahrzehnten unübersehbar, wie die Massenarmut rapide abnimmt. Es geht nicht nur den dortigen Oberschichten, sondern auch den Arbeitern und Bauern immer besser. Mitte der Siebziger hatte der Club of Rome noch gewaltigen Hungersnöten mit Millionen von Toten für diese Weltgegend prophezeit. Nun nehmen Malaysia, Hongkong und Co. ihren alten Kolonialherren die Märkte ab. Dabei haben auch sie einmal so arm wie Tansania angefangen. Es geht also doch: Die Verdammten dieser Erde holten gewaltig auf. Leider jedoch mit kapitalistischen Methoden. Und das ist es wohl auch, was den Aufstieg Asiens unter deutschen Linken zum Null-Thema macht.

Die „zweite Befreiung“ der Ex-Kolonien ist im Gange. Immer mehr afrikanische, asiatische und südamerikanische Intellektuelle stellen den linken Beschützern der Armen in Regierungen und Gewerkschaften kritische Fragen. Solidarität mit der Dritten Welt kann heute nur eines heißen: Fair Play, wenn die globale Konkurrenz durch die nachrückenden Länder zunimmt. Eine Weihnachtspende für den armen Kaffeepflücker in Nicaragua? Aber gern. Wehe jedoch wenn seine Tochter nicht mehr Kaffee pflücken möchte und es zur Softwareentwicklerin schafft! Wenn plötzlich billige und gute Computer, Textilien oder Autos auf die europäischen Märkte drängen aus Ländern die vorher jahrzehntelang in der Rolle des willigen Abnehmers europäischer Waren gefangen waren. Dann ist es schnell vorbei mit der „Internationalen Solidarität“. Dann protestieren die Bosse der Altindustrien mit den Gewerkschaftern Hand in Hand: Brot für die Welt aber die Wurst bleibt hier!

Es gibt viele Interessengruppen, die ganz zu Recht vor der Globalisierung zittern. Die alten Industrien und die Landwirtschaft Europas und Nordamerikas. Subventionsempfänger und erstarrte, staatlich gepäppelte Großkonzerne. Sie wollen, dass alles so bleibt wie es war. Sie ahnen, dass irgendwo da draußen in der Dritten Welt dynamische, motivierte und fleißige Menschen sitzen, die ihnen ihre ererbten Absatzmärkte abnehmen könnten. In der Linken haben sie eine nützliche und unverdächtige Interessenvertretung gefunden.

Während die Linke die Öffnung der globalen Märkte bekämpft, fordert sie Schuldenerlasse für Regierungen armer Länder. Gemeinsam mit Kirchen und professionellen Hilfsorganisationen gelang es, dieses Ansinnen bei den Regierungen der reichen Industrieländer durchzusetzen. Auch die stetige Forderung nach mehr Entwicklungshilfe war immer wieder erfolgreich. Seit auch internationale Popstars dafür werben, wurde die Überzeugung populär, man könne durch Schuldenerlasse und Entwicklungshilfe die Armut abschaffen. Sie gehört mittlerweile zur geistig-moralischen Grundausstattung vieler Menschen in Europa und Nordamerika.

Doch Sprecher der demokratischen Opposition afrikanischer Länder sehen diese Art Wohltätigkeit mit Skepsis. Aus ihrer Sicht zementieren Schuldenerlasse und Entwicklungshilfe nur die Herrschaft räuberischer Diktatoren. „Wenn die Industrienationen den Afrikanern wirklich helfen wollen,“ sagt der kenianische Wirtschaftsexperte James Shikwati, „sollten sie endlich diese furchtbare Hilfe streichen. Jenen Ländern, welche die meiste Entwicklungshilfe kassiert haben, geht es am schlechtesten.“ Der ugandische Journalist Andrew Mwela pflichtet bei: „Alle Hilfe verschleiert nur die Inkompetenz unserer Despoten.“ Ohnehin erreichen die wohltätigen Gelder des Westens nur selten die intendierten Empfänger. Nachdem Uganda im Jahr 2000 die Schulden erlassen worden waren, verschwand die Hälfte der frischen Entwicklungshilfe in dunklen Kanälen. Vier Jahre später hatte Uganda mehr Schulden als je zuvor. Als Großbritannien die Entwicklungshilfe für Malawi erhöhte, orderte die dortige Regierung als erstes 39 neue Mercedes S-Klasse. Eine ganze Reihe afrikanischer Länder bezieht bereits über die Hälfte ihres Staatshaushaltes aus Hilfsgeldern, und gibt die andere Hälfte umso schamloser fürs Militär und Prestigeprojekte aus. In vielen Fällen sank das Wirtschaftswachstum, wenn die Hilfsgelder anstiegen. Kleptokratische Herrschercliquen sind die größte Bürde der Armen in Afrika. Wer ihnen Schuldenerlasse und Entwicklungshilfe verschafft, verteilt das Geld der arbeitenden Menschen Europas an Superreiche in Afrika.

Abschied vom Antifaschismus

Die Linke übernimmt immer häufiger die Parolen der Rechtsradikalen.

Jeder, der die Broschüren von linken Antiglobalisten und Neonazis einmal nebeneinander legt, wird mühelos eine erhebliche Schnittmenge entdecken. Die Parolen beider Bewegungen sind immer häufiger nicht nur ähnlich, sondern identisch. „Arbeit statt Profite!“ lautet ein Slogan der NPD. Horst Mahler, die Inkarnation dieser Konvergenz, erklärte „Die Globalisierungsfalle“, Kultbuch der Antiglobalisten, zur „Pflichtlektüre.“ Der antiwestliche Eiferer, der von der RAF zur NPD wanderte, schreibt: „Der Feind aller Völker der Welt ist der Krake, das anonyme Geflecht des globalen Spekulationskapitals.“ Das könnte so auf jedem Attac-Flugblatt stehen. Würden die antiwestlichen Bewegungen von rechts und links zusammenwachsen, müssten sie keinen Schwenk vollziehen, sondern könnten weitermachen wie bisher. Schon heute bedienen sie sich wahllos bei jedem Ideologiesegment, das sich gegen Freihandel und offene Grenzen, gegen Amerika und Israel einsetzen lässt.

Das Ganze ist nicht neu. Auch zwischen den Weltkriegen predigten Kommunisten, Faschisten und Nationalsozialisten die Abschottung der Grenzen gegen fremde Waren, ausländische Unternehmen und Einwanderer. Sie waren damals ziemlich erfolgreich damit, weil nationalkonservative Eliten ihre ökonomischen Irrtümer teilten. Der internationale wirtschaftliche Integrationsprozess, der durch den ersten Weltkrieg ohnehin unterbrochen war, wurde fast völlig zum Erliegen gebracht. Wirtschaftkrisen und Armut waren die Folge. Die rot-braune Kooperation gipfelte gegen Ende der Weimarer Republik in gemeinsamen Veranstaltungen und Aktionen von KPD und NSDAP. Die Zentrale in Moskau sah es mit Wohlgefallen. Ein paar Jahre später wurde zum Entsetzen vieler anständiger Linker der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet. Heute ist die Situation bei weitem nicht so dramatisch. Aber wie damals verbinden protektionistische Trugschlüsse, Regulierungsglaube und die Verteufelung alles Amerikanischen rote und braune Gesinnung.

Dass die nationalsoziale Verbrüderung mehr als ein bizarres Phänomen radikaler Randgruppen ist, zeigte sich im Sommer 2005 als ein Bündnis aus ostdeutschen Postkommunisten (PDS) und enttäuschten westdeutschen Gewerkschaftern, Sozialdemokraten und linken Sekten (WASG) geschmiedet wurde: Die „Linkspartei“. Die beiden Führer der neuen Bewegung, Oskar Lafontaine und Gregor Gysi erklärten von Beginn an, den rechtsextremen Parteien „irregeleitete Wähler“ abspenstig machen zu wollen. Sie bedienen die Sehnsucht nach einem väterlichen Staat, der seinen Bürger Zuwendung, Schutz und Sicherheit gibt und sich nach außen protektionistisch abschottet. Um auch die Wähler vom rechten Rand zu ködern, schlug Lafontaine ungeniert nationale Töne an und forderte deutsche Arbeitsplätze für Deutsche zu reservieren. Dafür erhielt er umgehend Zustimmung von NPD-Funktionären. Einige forderten ihre Anhänger auf, in das Linksbündnis einzutreten.

Viele Jahre lang starrten politische Beobachter in Deutschland auf den rechten Rand, um einen deutschen Le Pen oder Haider rechtzeitig zu erkennen. Sie hätten sich ab und zu mal umdrehen sollen. Denn plötzlich ist er da. Dass er von links kam, erhöht die Chancen Gehör in den Medien zu finden erheblich. Es wächst zusammen was zusammengehört, eine Bewegung der Zukunftsangst und des Ressentiments: Gegen angelsächsischen Kapitalismus und technischen Fortschritt.

Die Gemeinsamkeiten beschränken sich nicht auf die Sozial- und Wirtschaftspolitik. „Für Frieden! Gegen US-Kriege!“ plakatiert die NPD. Beide Bewegungen reservieren ihre Friedensliebe jedoch für militärische Aktionen des Westens. Demgegenüber bringen sie großes Verständnis für islamistischen Terror auf. Ganz wie die Neonazis deuten viele Linke den Terrorismus als Verteidigung der moslemisch-arabischen Identität gegenüber dem westlichen Kapitalismus und Kulturimperialismus. Oskar Lafontaine spricht dem klerikal-faschistischen Mullahregime im Iran ein Recht auf Atomwaffen zu, mit der Begründung auch Israel habe solche Waffen. Dass die Machthaber im Iran Israel auslöschen wollen und nicht umgekehrt, schein für ihn dabei keine Rolle zu spielen.

Es gehört zu den guten Traditionen der Linken, auf demokratische Freiheiten zu pochen. Doch das einzige Land im Nahen Osten, in dem solche Freiheiten existieren, wird im Namen des „Antiimperialismus“ diffamiert und verleumdet. In einer Weltregion, in der die Menschenrechte von Religionsführern, Militärs, Zivildiktatoren und korrupten Scheichs mit Füßen getreten werden, ist Israel das einzige Land, in dem freie Wahlen, Pressefreiheit, Gewerkschaftsfreiheit und alle anderen Grundrechte garantiert werden. Die Gleichberechtigung der Frauen ist weitgehend durchgesetzt, es gibt keine staatliche Diskriminierung von Lesben und Schwulen, die Justiz ist unabhängig, die Rechtssprechung liberal. Diese in der akademischen Linken so wichtigen Errungenschaften bringen dem Land jedoch keine Sympathie ein. Im Gegenteil: Jassir Arafat, der mörderische, diktatorische und korrupte Palästinenserführer wurde zum Idol der Globalisierungsgegner und Friedensdemonstranten.

„Warum liest niemand die Charta der Hamas oder die Erklärungen der Fatah, in denen diese Organisationen ihre antisemitischen Ziele unverblümt äußern?“, fragt der Berliner Soziologe Michael Holmes in einem Aufsatz über die seltsamen Sympathien vieler Linker. „Warum wird jedes Selbstmordattentat in Europa ausgerechnet zur noch schärferen Verurteilung Israels verwendet? Warum wird gerade in Deutschland der Zusammenhang des 11. September mit der eigenen antisemitischen Geschichte nicht gesehen? Warum werden die größten europäischen Antisemitenaufmärsche seit 1945 ausgerechnet von Globalisierungsgegnern organisiert?“

Historiker und Islamwissenschaftler haben ausführlich beschrieben, dass zentrale Muster des nationalsozialistischen Amerikabildes und seines Antisemitismus vom heutigen Islamismus übernommen wurden. Das nationalsozialistische Regime hat den Islamismus nicht nur durch Waffenlieferungen und diplomatische Hilfe unterstützt, er teilt mit ihm das Zentrum seiner Ideologie. „Den Nazis wie den Djihadisten gilt nicht nur alles Jüdische als böse, sondern alles Böse als jüdisch,“ schreibt Holmes. „Der Kampf der Islamisten gegen die USA speist sich aus demselben antisemitischen Weltbild.“ Und bedauerlicherweise verschließt ein nicht kleiner Teil der Linken die Augen davor und verklärt Terroristen als anti-imperialistische Widerstandkämpfer.

Ganz neu ist das nicht. Bereits während der Studentenproteste der späten sechziger Jahre machte sich ein als Antizionismus getarnter Antisemitismus breit. Ein Wortführer wie Dieter Kunzelmann fluchte unentwegt gegen „Scheissjuden“. Deutsche Terroristen ließen sich von arabischen Judenhassern ausbilden, legten eine Bombe im jüdische Gemeindehaus in Berlin und entführten ein israelische Passagierflugzeug. „Die deutschen Achtundsechziger waren ihren Eltern auf elende Weise ähnlich,“ schreibt der Historiker Götz Aly.

Der verständnisvolle Blick auf palästinensische und andere Terrororganisationen, die gemeinsamen Kongresse und Demonstrationen mit Djihadisten, die Blindheit gegenüber deren offenen Bekenntnissen zu anti-humanen Zielen und Methoden, kennzeichnen Tiefpunkte linker Verwirrung. Das Identität stiftende anti-faschistische Pathos ist zur Folklore verkommen. In der Vergangenheit ermordete Juden werden zur Dekoration des eignen Edelmuts vereinnahmt. Die Lebenden betrachtet man wieder als Störenfriede.

Abschied von der Aufklärung

Im Windschatten der Linken gedeihen religiöser Obskurantismus, Esoterik und Verschwörungstheorien.

Linke pflegen sich als kritische und emanzipatorische Zeitgenossen zu verstehen. Die Befreiung des Denkens aus einem theologisch-metaphysisch begründeten Weltbild gehörte zum traditionellen Inventar der Linken. Ein Sozialist aus der Frühzeit des vorigen Jahrhunderts, der an die Vernunft und den Fortschritt glaubte, würde sich vermutlich über die heutige Linke die Haare raufen.

Postkommunisten, Sozialdemokraten, Grüne, Autonome, Alternative und wie man sich sonst noch so nennt haben sich im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte Schritt für Schritt von der Aufklärung verabschiedet und praktizieren Gegenaufklärung. Anstatt die Verhältnisse kritisch-analytisch verändern zu wollen, soll der Weg zu einer besseren Welt mit Hilfe des Glaubens eingeschlagen werden. Esoterik und Religion gelten plötzlich als gleichwertige Erkenntnisebenen, genau wie der Glaube an ein inneres, göttliches Gleichgewicht der Natur. Auf Kirchentagen, in Volkshochschulen, auf Kongressen, in Radio und Fernsehen wird die neue Spiritualität verbreitet.

Die Retro-Frömmigkeit irrlichtert irgendwo umher zwischen dem Dalai Lama und der Walldorf-Schule, Greenpeace und Peta. In den gebildeten Schichten breiten sich neue religiöse Strömungen aus: Anthroposophie, Buddhismus und Esoterik in allerlei Spielarten. Die stärkste und am weitesten verbreitete Strömung ist der Ökologismus. Wie im Christentum rankt sich die Vorstellungswelt des Ökologismus um die Erwartung einer Endzeit, auf die man sich durch Verzicht und Buße vorbereiten soll. Das Schrifttum der Ökobewegung steckt für jedermann erkennbar voller solcher Motive. Das ewige Leben findet in unablässigen Recycling-Schleifen seine Entsprechung und die Buße erfolgt in Form des Dosenpfandes. An die Stelle des jüngsten Gerichtes tritt die Klimakatastrophe und statt Kirchtürmen ragen Windräder gen Himmel.

In deutschen Schul- und Kinderbüchern, in Videoclips und Vorabendserien, in staatlichen Museen und Parteiprogrammen prägen längst ökologistische Glaubenssätze die öffentliche Sprache. Die Natur ist gut, der Mensch ist schlecht. Und wenn der Mensch nicht gehorcht, droht ihm „die Rache der Natur“. Die erzürnte Naturgöttin verlangt Beschwichtigungsrituale (was die Inbrunst erklärt, mit der viele ihren Müll sortieren). Das Natürliche: rein, unverdorben, heilig. Das vom Menschen gemachte: sündhaft, schmutzig, verderbt. In der Popkultur haben Delphine und Wale die Rolle der Engel eingenommen: gütige und weise höhere Wesen, die uns Botschaften übermitteln.

Wie das kirchliche Abendmahl festigen Lichterketten, Sitzblockaden und Benefizkonzerte die Gemeinschaft der Gläubigen. Und wie in allen Religionen sorgen Nahrungstabus für elitäre Abgrenzung von den unreinen Heiden. „Bio“ ist nichts anderes als „halal“ oder „koscher“, eine mentale Hilfestellung zur Festigung des Glaubens im Alltag (es gibt trotz vieler Versuche ihn zu erbringen keinen wissenschaftlichen Nachweis, dass gentechnikfreie Lebensmittel, oder solche die nach den Richtlinien der Ökoverbände erzeugt wurden, gesünder oder nahrhafter seien). Erlösung verspricht einzig der „ökologische Kreislauf“, der die individuelle Vergänglichkeit in den ewigen Zirkel der Natur transzendiert.

Für viele moderne Ängste gibt es keinen vernünftigen Grund. Die Grenzen zwischen berechtigten Sorgen und esoterischem Humbug ist längst gefallen. Furchtbare Gefahren lauern angeblich in Mobiltelefonen, Zahnplomben und Plastikspielzeug. Nun ist man in einer Zeit, in der fundamentalistische Gottesmänner Blutbäder in aller Welt anrichten, direkt dankbar für Religionen, die keine Menschenleben kosten. Doch hat der Ökologismus auch hier seine Unschuld verloren. Er kostet inzwischen Menschenleben, und zwar sehr viele. Weltweit stirbt alle 30 Sekunden ein Mensch an Malaria. Mitverantwortung dafür tragen linke Ökoeliten, die gegen jede Vernunft und gegen jedes soziale Gewissen eine kurzsichtige Ächtung des Spritzmittels DDT durchgesetzt haben, das bei der Malariabekämpfung wertvolle Dienste leistete (Es wird dabei vergleichsweise winzigen Mengen angewandt und schadet im Gegensatz zum Einsatz in der Landwirtschaft auch nicht den Vögeln).

Leider ist dies nicht das einzige Beispiel. Die Reihe ökologistischer Kreuzzüge auf Kosten anderer wird immer länger: Sie reichen von der Bekämpfung der grünen Gentechnik (und ihrer Potentiale für Entwicklungsländer), über das Boykottieren von Impfungen (wodurch sie Infektionskrankheiten wieder ausbreiten), bis hin zum Verhindern medizinischer Forschung, weil dafür Tierversuche notwendig sind. Mit religiösem Eifer werden die Möglichkeiten untergraben, gegenwärtige und künftige Menschheitsprobleme zu lösen.

Es gehört zum guten Ton, die Errungenschaften der modernen Medizin für die Volksgesundheit zu verachten. Die Tatsache, dass sich die Lebenserwartung in Deutschland innerhalb von 200 Jahren verdoppelte, wird schulterzuckend zur Kenntnis genommen. Kinderlähmung, Masern und andere schwere (oft tödliche) Krankheiten waren vor wenigen Jahrzehnten noch allgegenwärtig. Ihre erfolgreiche Bekämpfung durch Pharmazie und Technik nimmt kaum jemand mehr als Erfolg wahr. Therapien, die auf Wissenschaft, Logik und wiederholbaren Versuchen beruhen, werden selbst von ihren Verfechtern inzwischen mit dem Schmähwort „Schulmedizin“ etikettiert. Sie gilt als Verschwörung profitgeiler Weißkittel, die ihre Patienten mit „harter Chemie“ und „kalter Technik“ ruhig stellen. Wissenschaft und Technik gelten als verdächtig, Esoterik als Rettung. Was einmal als berechtigte Kritik der Schattenseiten des Medizinbetriebes begann, endet häufig als pseudoreligiöse Anbetung von und Wunderheilern und Homöopathen. Gurus, die sich früher in der Esoterikecke tummelten, geben heute in der Gesundheitsdebatte den Ton an. In der Alltagssprache firmiert offensichtlicher Humbug als „Ganzheitliche Heilkunde“ und „Sanfte Medizin“.

Die meisten politischen Köpfe unterschätzen die Macht des Magischen fahrlässig. „Okkultismus ist die Metaphysik der dummen Kerle“, denken sie mit Adorno. Aber diese Dummheit bedeutet nicht automatisch Schwäche und Randständigkeit. Sie kann sehr mächtig werden, wenn sie die viel zitierte „Mitte der Gesellschaft“ erfasst. Jutta Ditfurth hat sich dankenswerterweise schon vor Jahren mit der Esoterikszene und ihren politischen Ausläufern befasst. Sie brachte an den Tag, wie ungeniert sich obskure Welterklärungsmodelle in der Ökoszene und anderen sozialen Bewegungen breit gemacht haben. Während die dunklen Blüten des Okkultismus früher bei der völkischen Rechten aufgingen, findet heutzutage vieles davon an den ausgefransten Rändern einer orientierungslosen Linken statt.

Seit einigen Jahren greift die Aufklärungsverachtung und der Werterelativismus mancher Linker immer weiter über den Öko- und Esoterik-Bereich hinaus. Eine nicht unerhebliche Strömung bemüht sich eifrig um die Verharmlosung des militant anti-aufklärerischen Islamofaschismus. Das geschieht mitunter auf krudeste Art: Seit dem 11. September 2001 wuchs in Rekordzeit ein ganzes Genre der Verschwörungsliteratur heran. Eine verschworene Gemeinschaft von „Neocons“ steuere ihnen zufolge aus dem Hinterzimmer des Weißen Hauses das Weltgeschehen. Der Glaube einer Verschwörung finsterer Mächte hat sich von einigen Hundert Freaks auf hunderttausende Normalbürger ausgedehnt. Es mag daran liegen, dass bei den Neocons obendrein noch die „amerikanische Ostküste“ im Spiel ist. Die „Weisen von Zion“ lassen grüßen. Die Autoren Broeckers, von Bülow und Co. bedienen diesen Wachstumsmarkt. Und renommierte Verlage und Sendeanstalten bringen ihre Falschbehauptungen unters Volk. Die Verschwörungstheorien nähren sich aus Selbstgerechtigkeit und Ressentiment. Ihr Erfolg zeigt, wie sehr der nun schon zwanzig Jahre anhaltende Esoterikboom die Gesellschaft verblödet hat. Es sind oft die gleichen Leute, die mit düsterer Mine vom „Einfluss der Juden in Washington“ raunen, und im nächsten Augenblick über die Macht der Kristalle, Energiewasser oder ihren Aszendenten dozieren.

Abschied vom Fortschritt

Die Linke blockiert soziale Veränderungen und neue Technologien.

Ende der siebziger Jahre gelang es den Grünen erzkonservative und linke Positionen in einer apokalyptischen Weltanschauung zu verschmelzen. Aus der Verbindung zwischen antikapitalistischen Ideologen und konservativen Fortschrittsfeinden, die sich im Prostest gegen Atomkraftwerke trafen, entstand die grüne Partei. Der neu erwachte Zukunftspessimismus strahlte schon bald bis tief in die Sozialdemokratie und führte dort zu einem opportunistischen Ergrünen. Der linke Anspruch auf Fortschritt und Veränderung wich einer grünen Kreislaufphilosophie

Vorbei die Zeiten, als sozialdemokratische Verkehrsminister noch jedem Bundesbürger einen Autobahnanschluss gleich um die Ecke bescheren wollten. Stattdessen wurden das Auto und die individuelle Mobilität zu einer Lieblings-Zielscheibe der Zivilisationskritik. Am meisten aber verdeutlicht der Sinneswandel in Sachen Atomkraft den linken Abschied vom industriellen und technischen Fortschritt. Aus rückhaltloser Befürwortung wurde kompromisslose Ablehnung.

Seit dem Farbfernsehen ist keine technische Innovation mehr freudig begrüßt worden. Jede neue Technik wird umgehend blockiert, wenn ein Risiko nicht vollkommen ausgeschlossen werden kann. Der angstbesetzte Begriff „Vorsorgeprinzip“ wurde zur Ikone des linken Zukunftsdiskurses. An die Stelle einer offenen und evolutionären Vorstellung trat das Ideal der „Nachhaltigkeit“, das sich Zukunft allenfalls noch als Energiesparvariante der Gegenwart vorstellen kann. Während der letzten Fußballweltmeisterschaft 2002 lobte sich die rotgrüne Bundesregierung allen Ernstes mit Zeitungsanzeigen unter dem Motto „Weltmeister im Aussteigen“ (gemeint war der Atomausstieg). Der Gedanke, dass die Zukunft vielleicht besser werden könnte als die Gegenwart, klingt in linksintellektuellen Zirkeln wie eine völlig verrückte Utopie.

Besonders deutlich wird dies, wenn es um die Potentiale von Wissenschaft und Technik geht Felder, mit denen man sich als Linker von heute nicht gern beschäftigt. Schafft die Computerrevolution Arbeitsplätze, reinigt der Katalysator die Luft, steigert Gentechnik die Ernten, dann sitzt die Linke auf dem Sofa, verschränkt die Arme und ist beleidigt. Fortschritt darf nur durch gesellschaftliche Umwälzungen entstehen und keinesfalls durch Technik.

Stattdessen pflegt man eine Art negativen Adventismus, der sich aus Versatzstücken der Marxschen Verelendungstheorie und ökologistischen Untergangsszenarien speist. Egal was passiert, es führt uns näher an den unvermeidlichen Abgrund. Begründungen dafür werden ungeniert gewechselt: Die Arbeiter kommen zu Wohlstand. Aaaber die Dritte Welt wird immer ärmer! Dritte-Welt-Länder holen auf. Aaaber die Umwelt! Die Umwelt wird sauberer. Aaaber die Klimakatastrophe kommt! Irgendwie wird schon alles den Bach runter gehen. „In der Linken sammelten sich vor allem Leute, die verdreht denken,“ sagte der Historiker (und Ex-Aktivist des „Sozialistischen Büros“) Dan Diner einmal. „Sie malten stets Worst-Case-Szenarien an die Wand und wurden dann aus Panik immer radikaler, weil sie an ihre eigenen Unheilsprophezeiungen zu glauben begonnen hatten.“

Als Anfang der achtziger Jahre Computer für alle erschwinglich wurden, diskutierte man die neue Technologie unter zwei Gesichtspunkten. Erstens: Computer sind Jobkiller und somit äußerst asozial. Zweitens: Durch Computer werde eine orwellsche Überwachung aller Bürger kommen (Die Partei der Grünen beschloss folgerichtig einen Computerboykott). Als die Mobiltelefone aufkamen war die Strahlengefahr durch Funkmasten Thema Nummer eins. Der Siegeszug des Internets löste vornehmlich Befürchtungen aus, mit Pornografie und Nazipropaganda überschwemmt zu werden. Reproduktionsmedizin? FrankensteinForscher wollen Menschen klonen. Stammzellenforschung? Menschen sollen als Ersatzteillager missbraucht werden. Pflanzen-Gentechnik? Monstertomaten! Mit absurden Argumenten wird die grüne Gentechnik seit über zehn Jahren politisch abgewürgt. Die Realität, dass Landwirte von Indien bis Argentinien auf vielen Millionen Hektar Land die verbesserten Nutzpflanzen ohne Schaden für Mensch oder Natur anbauen, wird schlicht ausgeklammert.

Preiswerte und gesunde Nahrung für die Massen waren einst ein ganz wichtiges Anliegen der Sozialrevolutionäre, Friedrich Engels forderte beispielsweise eine „Demokratisierung des Fleischverzehrs“. Er würde sich heute sehr wundern. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts fordern sich als links gerierende Geister plötzlich „Klasse statt Masse“. Grüne Ministerinnen und so genannte Verbraucherschützer ziehen gegen billige Lebensmittel aus dem Supermarkt zu Felde. Die Kaviarlinke sieht voller Verachtung auf die populären Ladenlokale von Aldi oder Lidl herab und verkauft dies auch noch als Ausweis sozialer Verantwortung oder ökologisch hoch stehender Gesinnung.

Noch nie in der Geschichte der Menschheit konnten mehr Menschen hygienische, preisgünstige und auch wohlschmeckende Lebensmittel kaufen als in unserem System der arbeitsteiligen und hochtechnisierten Massenversorgung. Noch nie konnte mehr Menschen sich beispielsweise preiswertes Obst leisten als heute dank Aldi & Co. eine große Leistung für die Volksgesundheit. Und wie kommen Verbraucherschützer bloß auf die Idee, gegen Dosen, Tiefkühlkost oder moderne Konservierungsstoffe zu wettern? Unsere Nahrung ist aufgrund der neuen Techniken heute gesundheitlich unproblematischer als in alten Zeiten, wo viele Tausend Menschen infolge verdorbener oder mit Schimmelpilzgiften verseuchter Lebensmittel starben.

Unserer Ernährung hat sich mit Hilfe der modernen Technologie und dank des gewachsenen Wohlstandes beeindruckend verbessert. Ein Durchschnittsdeutscher von vor 100 Jahren käme sich heute wie im Schlaraffenland vor. Warum vermögen ausgerechnet Linke diesen Schritt nicht gutzuheißen? Dahinter steckt der Neid gescheiterter Volkserzieher und auf Seiten der Kulturelite eine tiefe Abneigung gegen alles Egalitäre und die Massenkultur an sich (Siehe auch: Abschied von der Gleichheit). Die Verfeinerten, Kultivierten, Gebildeten grenzen sich gegen den aktuellen Barbaren in Gestalt des armseligen AldiKunden oder McDonald‘s-Besuchers ab. Für diese Vielfernseher, Bildzeitungsleser und Massentouristen empfindet man nichts als abgrundtiefe Verachtung, verpackt allerdings in fürsorgliche Bevormundung. Daher rührt auch der Furor alles teurer zu machen, was den Massen Spaß machen könnte: Dosenbier und Mallorcaflüge, Benzin und Buletten.

Dazu passt der französische Linksintellektuelle José Bové, der sich eine Ziegenherde anschaffte und seitdem einen auf Bauernführer macht. Gemeinsam mit einigen Spießgesellen von der „Bauern Konföderation“ fackelte er kurzerhand ein französisches McDonald‘s-Restaurant ab. „Die Rechten hassen McDonald‘s weil es auf zivilisierte Weise die Idee des nationalsozialistischen Eintopfsonntags überboten hat. Die Linken hassen McDonald‘s weil es die alte Forderung der Arbeiterbewegung verwirklicht hat, auch der Proletarier solle an den Fleischtöpfen der Bourgeoisie teilhaben und in gut belüftete, helle Restaurants gehen können“, schreiben Richard Herzinger und Hannes Stein in ihrem Buch „Endzeitpropheten oder die Offensive der Antiwestler“. Als Verteidiger der „bäuerlichen Interessen“ stieg Jose Bové zu einer Ikone der Globalisierungsgegner auf. Am konsequentesten aber vollzog die kommunistische italienische Zeitung „Il Manifesto“ die Symbiose von Gesellschaftskritik und Feinkost. Aus ihrer Fressbeilage „Gambero Rosso“ (Roter Hummer) wurde inzwischen ein führendes Feinschmecker-Magazin, das erheblich erfolgreicher ist als das Mutterblatt.

Zur Erinnerung

DIE INTERNATIONALE

Text: Emil Luckhardt
Musik: Pierre Chrétien Degeyter

Wacht auf, verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt! Das Recht wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch dringt. Reinen Tisch macht mit dem Bedränger! Heer der Sklaven, wache auf!
Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger, alles zu werden, strömt zuhauf. Völker, hört die Signale! Auf, zum letzten Gefecht!

Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!

Völker, hört die Signale! Auf, zum letzten Gefecht!
Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.
Es rettet uns kein höh‘res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!
Leeres Wort: des Armen Rechte! Leeres Wort: des Reichen Pflicht Unmündig nennt man uns und Knechte, duldet die Schmach nun länger nicht!

Völker, hört die Signale! Auf, zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht! Völker, hört die Signale! Auf, zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.

In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute, wir sind die stärkste der Partei’n.
Die Müßiggänger schiebt beiseite! Diese Welt wird unser sein;
unser Blut sei nicht mehr der Raben und der nächt’gen Geier Fraß!
Erst wenn wir sie vertrieben haben, dann scheint die Sonn‘ ohn‘ Unterlass.

Völker, hört die Signale! Auf, zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht! Völker, hört die Signale! Auf, zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.